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Wie die Physik ein metaphysisches Prinzip zu Fall gebracht hat – aber nicht sagen kann, wie damit weiter umzugehen ist

 

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war das folgende metaphysische Prinzip nahezu unbestritten:

PhKP: Jedes physische Ereignis hat eine hinreichende physische Ursache.

Dies ist das Physikalische Kausalprinzip. Es ist ein dezidiert metaphysisches Prinzip – wenngleich es sich auf die „physikalische Welt“ bezieht. Aber es ist keine Folge der Physik, nichts, was sich empirisch beobachten lässt. Es ist ein Prinzip, das als plausibel zur Charakterisierung der Welt gesehen wurde.

PhKP ist bei genauerer Betrachtung die logische Folge aus der Konjunktion von zwei anderen metaphysischen Prinzipien – dem Allgemeinen Kausalprinzip (AKP) und dem starken (StPKG) oder dem schwachen Prinzip der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt (ScPKG):

AKP: Jedes Ereignis hat eine hinreichende Ursache.

StPKG: Jede hinreichende Ursache eines physischen Ereignisses ist selbst physisch.

ScPKG: Jedes physische Ereignis, das eine hinreichende Ursache hat, hat auch eine physische hinreichende Ursache.

Ob man nun AKP mit StPKG oder AKP mit ScPKG (Anm.: ScPKG folgt logisch aus StPKG) kombiniert: Eine logische Folge ist PhKP.

Nun kann die Physik zwar keine metaphysischen Prinzipien begründen, aber sie kann metaphysische Prinzipien widerlegen. Und genau das geschah mit PhKP! Streng genommen war das nicht die Physik qua Physik allein, sondern die Physik mit metaphysischer Unterstützung (der Anteil kann schon erahnt werden, wenn man auf den Terminus „Interpretation der Quantenmechanik“ achtet), aber der Einfachheit wegen wollen wir beim folgenden von einer physikalischen Erkenntnis sprechen: Es gibt physische Ereignisse, die keine hinreichende physische Ursache haben! Das ist die Standarddeutung der Quantenmechanik.

Nimmt man diesen Umstand als empirisches Faktum, ist damit PhKP widerlegt: Wenn es physische Ereignisse ohne hinreichende physische Ursache gibt, ist es falsch, dass alle physischen Ereignisse eine hinreichende physische Ursache haben. Aber was bedeutet das für die anderen angesprochenen metaphysischen Prinzipien? Nun: PhKP ist eine logische Folge aus der Konjunktion von AKP und StPGK bzw. AKP und ScPKG, und basale Logik lehrt uns: Dann muss mindestens eines der Konjunktionsglieder falsch sein. Aber was soll man verwerfen? Bevor wir weitermachen: Da es für das Folgende irrelevant ist, ob man StPKG oder ScPKG zugrundlegt, wollen wir einfach von „PGK“ sprechen.

Die Frage des Umgangs mit den anderen Prinzipien ist nun keine Frage der Physik mehr – sondern eine genuin metaphysische. Eine empirische Antwort kann hier nicht gegeben werden – es gibt eine empirische Äquivalenz.

Hält man an AKP fest und verwirft PKG, dann gilt: Alle physischen Ereignisse ohne hinreichende physische Ursache haben eine hinreichende nicht-physische Ursache.

Hält man an PKG fest und verwirft AKP, dann gilt: Alle physischen Ereignisse ohne hinreichende physische Ursache haben überhaupt keine hinreichende Ursache – sie sind ontisch zufällig.

Verwirft man sowohl AKP als auch PGK, dann gilt: Einige – aber nicht alle – der physischen Ereignisse ohne hinreichende physische Ursache haben überhaupt keine hinreichende nicht-physische Ursache, und einige – aber nicht alle – der physischen Ereignisse ohne hinreichende physische Ursache haben eine hinreichende nicht-physische Ursache.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich weitgehend die metaphysische Annahme durchgesetzt, dass AKP zu verwerfen und PKG zu verteidigen ist. Dies sei, so viele, ein Gebot der wissenschaftsliebenden Vernunft. Allerdings stellt sich die Frage, ob dies nicht einem metaphysischen Vorurteil geschuldet ist: Es scheint evident zu sein, dass mentale Ereignisse physische Ereignisse verursachen. Um vor diesem Hintergrund PKG zu verteidigen, wird behauptet, dass mentale Ereignisse letztlich mit physischen Ereignissen identisch sind – und als Grund dafür gerne angeführt, dass sonst PKG verletzt würde. Ein Zirkel, wie er im Buche steht.

Und „die Wissenschaft“ – hier konkret: die empirische Wissenschaft, bzw. ihre Speerspitze, die Physik – verlangt gewiss weder zu ihrer Wertschätzung noch für ihr Betreiben die Annahme von PKG als metaphysisches Prinzip. Das wird jedoch von denen, die an PGK festhalten (gemeinhin: den Physikalisten), gerne behauptet. Dabei sollte es nicht allzu schwer sein, Folgendes zu verstehen:

Die Physik untersucht – qua Physik – physische Ereignisse und ihre Einbettung in das Geschehen der physischen Welt. Dabei versucht sie, physische Ereignisse als von physischen Ursachen verursacht auszuweisen. Als Physik kann die Physik keine nicht-physischen Ursachen in den Blick nehmen: Sie ist beschränkt auf physische Vorkommnisse als Verursacher von physischen Ereignissen, und geht deshalb aus heuristischen Gründen von einem methodologischen Prinzip der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt aus. Findet sie für ein physisches Ereignis keine physische hinreichende Ursache, ist es jedoch nicht an der Physik qua Physik, zu sagen, es gibt gar keine hinreichende Ursache. Und die Physik wird weder verunmöglicht noch nicht geschätzt, wenn man ihre Heuristik nicht zu einem metaphysischen Prinzip erhöht.

 

Möchte man einen klugen zeitgenössischen metaphysischen Komplettentwurf lesen, in dem auch die angesprochenen Punkte enthalten sind, greife man zu Meixner, Uwe (2021): Metaphysik ohne Vorurteile. Darmstadt: WBG.

 

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