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Was ist Philosophie (heute)?

Die Frage, was Philosophie ist, ist selbst eine philosophische Frage – und leider eine alles andere als leicht zu beantwortende Frage.[1] Die Beantwortung, sei es nun in expliziter Form der Art „Die Philosophie ist ...“, oder aber vor allem auch in impliziter Form als (stillschweigende) Voraussetzung beim Philosophieren, gehört seit der Antike zu den großen Herausforderungen der Philosophie. Weitgehend unkontrovers ist nur der eigentliche Wortsinn von „Philosophie“ vor dem Hintergrund des etymologischen Ursprungs: „Philosophie“ entstammt dem Griechischen („philosophía“) und bedeutet „Liebe zur Weisheit“. Immerhin lässt sich gut begründbar auf einer sehr allgemeinen Ebene Folgendes über die Philosophie sagen: Die Philosophie ist seit jeher eine grundlegende Orientierungsdisziplin mit einem (mindestens) dreifachem Anspruch[2].

 

Die Philosophie als Universaldisziplin, Reflexionsdisziplin und Metadisziplin

Sie versteht sich zum einen als Universaldisziplin, da sie nach universalen Einsichten strebt. Sie analysiert die gesamte Wirklichkeit in den Dimensionen des Wahren, des Guten und des Schönen. Sie ist nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich festgelegt, sondern zeichnet sich durch spezifische (bisweilen auch sehr kontrovers diskutierte) Methoden aus. Das sind heute insbesondere logische und begriffliche Analysen.

Ein weiterer Anspruch der Philosophie ist der, eine Reflexionsdisziplin zu sein. Sie ist „Anwendung von Vernunft auf ihr eigenes Tun“[3]. Sie nimmt das menschliche Denken und Handeln in den Blick, womit sie in besonderer Weise – nämlich vollumfänglich –  auch selbstreflexiv ist: Sie beleuchtet laufend die Gesamtheit der eigenen Voraussetzungen. Der reflektive Charakter der Philosophie zeigt sich zum Beispiel darin, dass es in der Philosophie wesentlich darum geht, Antworten auf Fragen folgender Art zu finden, wobei „p“ für eine beliebige (z.B. alltägliche oder auch wissenschaftliche) Aussage steht (in der Philosophie sagt man statt „Aussage“ oft auch „Proposition“): „Was bedeutet es, dass p?“,Unter welchen Bedingungen können wir überhaupt sagen, dass p?“,Was folgt (für uns Menschen) daraus, dass p?“ 

Der dritte Anspruch der Philosophie ist der, eine Metadisziplin zu sein. Sie nimmt in verschiedener Weise auf Einzelwissenschaften Bezug. So gilt zum Beispiel: Sie umgreift und berücksichtigt (bei Bedarf) die Erkenntnisse der anderen Disziplinen, sie setzt die (Erkenntnisse der) anderen Disziplinen miteinander in Verbindung, und sie  beleuchtet überhaupt erst einmal die grundsätzlichen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Weltzugangs.

 

Ist die Philosophie eine Wissenschaft?

Unter anderem dieser letzte Punkt gibt begründeten Anlass zur Negation der These, dass die Philosophie selbst eine Wissenschaft ist. Es wird in Fachkreisen bis heute viel darüber diskutiert, ob die Philosophie eine Wissenschaft ist und wenn ja, welcher Art Wissenschaft sie (zumindest mit Blick auf bestimmte Teile bzw. bestimmte Subdisziplinen von ihr) ist. Relativ unstrittig ist, dass die Philosophie, selbst wenn sie – sofern man ein sehr weites Wissenschaftsverständnis vertritt – eine Wissenschaft ist, auf eine grundsätzlich andere Weise eine Wissenschaft als alle anderen Wissenschaften ist. 

Ein klassisches Argument gegen die Auffassung, dass die Philosophie eine Wissenschaft ist (wenngleich sie vielfach wissenschaftlich arbeitet), lautet radikal vereinfacht: Wissenschaft kann sich nicht selbst konstituieren, sondern benötigt einen externen Anker, die Philosophie, der die Rahmenbedingungen festlegt, was überhaupt Wissenschaft ist bzw. als Wissenschaft gelten kann. Sonst könnte sich zum Beispiel jede noch so abwegige Praxis selbst als Wissenschaft deklarieren und es gäbe keinen Grund, warum sie keine Wissenschaft sein sollte. Während Wissenschaft einen festen Rahmen von Voraussetzungen etc. brauche, der sich zwar im Laufe der Zeit ändern kann, aber zumindest temporär fest ist, könne die Philosophie einen solchen festen Rahmen angesichts ihrer unhintergehbaren und immanenten fortlaufenden Fundamentalreflexion nicht haben. 

Ohne die Frage, ob die Philosophie eine Wissenschaft ist, schlussendlich beantworten zu wollen, wird hier zumindest aus pragmatischen Gründen die Philosophie nicht als Wissenschaft verstanden. Dies legitimiert beispielsweise auch Redeweisen wie „Die Philosophie umgreift die Wissenschaften“ oder „Die Philosophie klärt die metaphysischen Implikationen der Wissenschaften“.

 

Die Philosophie als Voraussetzungsdisziplin bzw. Disziplin höherer Ordnung

Vor dem bisherigen Hintergrund kann man die Philosophie auch – je nach Sichtweise – als Voraussetzungsdisziplin bzw. Disziplin höherer Ordnung, die sich mit elementaren Formen von Geltungsproblemen auseinandersetzt, charakterisieren. Ihre Aufgaben sind, das ist bereits angeklungen, sehr vielfältig. Zwei (zusammenhängende) Beispiele sind:

(1) Die Philosophie bewertet die Chancen sowie die Reichweite von verschiedenen epistemischen, normativen und ästhetischen Weltzugängen. Damit ist Folgendes gemeint: Ein „epistemischer Weltzugang“ – vom griechischen „epistēmē“ für „Wissen“ bzw. „Erkenntnis“ – ist ein Weltzugang, der Wissen bzw. Erkenntnis (über die Welt) liefern soll, wie zum Beispiel Wissenschaft. Philosophische Subdisziplinen, die hier eine Rolle spielen, sind zum Beispiel die Erkenntnistheorie und die Wissenschaftstheorie. Ein „normativer Weltzugang“ betrifft das Gebot eines Tuns in der Welt: Es geht um Handlungsnormen, also darum, wie man (in der Welt) handeln soll. Dabei dreht es sich nicht nur (aber natürlich ganz zentral auch) um ethische Normen (wie z.B. „Du sollst keine Unschuldigen töten“) bzw. allgemein um Fragen des moralisch guten Handelns, die in der Ethik untersucht werden, sondern um grundsätzliche Handlungsgebote und damit rationales Handeln jeglicher Art. 

Ein Beispiel für ein nicht-ethisches Handlungsgebot ist das (offenbar nicht zielführende) Gebot, zum Zwecke der Überprüfung einer universellen Allaussage wie „Alle Schwäne sind weiß“ immer nur die Objekte wieder und wieder zu untersuchen, denen man bereits begegnet ist. Wer bis jetzt nur weiße Schwäne gesehen hat und stets nur diese Schwäne in den Blick nimmt, hat wenig Chancen, einen nicht-weißen Schwan zu finden. Durch das zuletzt genannte Beispiel, mit dem man wieder in der Wissenschaftstheorie ist, wird deutlich, dass es bisweilen einen engen Zusammenhang zwischen normativen und epistemischen Weltzugängen gibt. 

Ästhetische Weltzugänge schließlich sind solche, die die Welt in den Kategorien des Schönen, des Erhabenen, des Künstlerischen und des Sinnlichen bewerten. Eine wichtige philosophische Subdisziplin in diesem Zusammenhang ist die Ästhetik. 

Es liegt nun in allen drei Fällen an der Philosophie, auf eine sehr allgemeine Art und Weise die Reichweite und die Grenzen verschiedener Formen dieser Weltzugänge zu analysieren und zu bewerten: Was leisten bestimmte Weltzugänge – und was leisten sie nicht? Die Betonung „auf eine sehr allgemeine Art und Weise“ ist wichtig, denn es ist natürlich beispielsweise nicht Aufgabe der Philosophie, der Physik zu sagen, mit welchen Experimenten der Prozentanteil der Dunklen Materie an der Gesamtmasse im Universum bestimmt werden soll. Aber es ist beispielsweise Aufgabe der Philosophie zu klären, was grundsätzlich eigentlich ein Experiment ist, in welchem prinzipiellen epistemischen Verhältnis Experiment und Theorie zueinander stehen und was Experimente über die Wirklichkeit aussagen. Und auf einer sehr basalen Ebene liegt es an der Philosophie, Antworten auf die Frage zu geben, was überhaupt Begriffe wie zum Beispiel „Wahrheit“, „Wissen“, „Wissenschaft“, „Naturgesetz“ oder „Kausalität“ bedeuten.

(2) Es ist Aufgabe der Philosophie, Möglichkeiten und Wege eines rationalen, konsistenten und kohärenten Menschen- bzw. allgemein, da der Mensch auch Teil der Welt und damit inkludiert ist, Weltbildes zu sondieren. Hier bewegen wir uns unter anderem in den Gebieten der Metaphysik,  der Naturphilosophie und der Anthropologie. In erster Näherung kann man Anthropologie und Naturphilosophie als „spezielle Metaphysiken“ ansehen. Alle Weltbilder, ob es nun z.B. „wissenschaftliche“, „religiöse“ oder „esoterische“ sind, sind metaphysischer Natur - alle grundlegenden Aussagen darüber, „wie die Welt ist“, fallen in die Domäne der Metaphysik. 

Die Untersuchung der Plausibilität, der Konsistenz und Kohärenz solcher Weltbilder ist nun Aufgabe der Philosophie. Geht es um die Welt „im Ganzen“, also alles, was es gibt (und geben könnte), befindet man sich in der Metaphysik. Die Metaphysik hat den Anspruch, unter Berücksichtigung des gesamten menschlichen Wissens die fundamentalen Eigenschaften der Welt zu untersuchen. Legt man den Fokus auf den Menschen oder zum Beispiel auf die Natur, befindet man sich in der Anthropologie bzw. in der Naturphilosophie.

 

Geltungsprobleme und die Rolle der Vernunft

Wie nun vermutlich deutlich wurde, besteht eine wesentliche Aufgabe der Philosophie in der Auseinandersetzung mit grundlegenden Geltungsproblemen. Das heißt: Sie analysiert prinzipielle Geltungsansprüche und weist Wege, wie diese einzulösen sind. Ein Geltungsanspruch ist der Anspruch auf Geltung, und eine Geltung ist eine (intersubjektive) Verbindlichkeit der Zustimmung bzw. eine rationale Zustimmungspflicht. Ein Geltungsanspruch ist also der Anspruch, dass das Behauptete aus rationaler Warte zustimmungspflichtig ist und Geltungsprobleme sind Probleme, die im Kontext von Geltungsansprüchen auftauchen. 

Ein einfaches Beispiel: Wenn jemand behauptet, es würde keine Wahrheit geben, ist er nicht in der Lage, einen Geltungsanspruch einzulösen, weil er mit dem, was er sagt, eine notwendige Voraussetzung negiert, damit seine Aussage überhaupt wahr sein kann – er negiert, dass es Wahrheit gibt. Wenn es keine Wahrheit gibt, kann er es aber nicht als wahr behaupten, dass es keine Wahrheit gibt.[4] Das Analysieren von Geltungsansprüchen beinhaltet die Klärung der Frage, was alles der Fall sein muss, damit eine behauptete Aussage wahr ist, und ebenso die Klärung der Frage, inwieweit durch das Gesagte Gründe gegeben werden, die Voraussetzungen anzuerkennen, die für die Wahrheit der Aussage notwendig sind. 

(Nicht nur) Hier wird der enge Zusammenhang zwischen Philosophie und Vernunft deutlich. Vernunft ist stark vereinfacht genau jenes Vermögen, Begründungen zu liefern und (selbst-) reflexiv Geltungsansprüche zu beurteilen. Ein wesentlicher Aspekt betrifft dabei den Ausweis und die Vermeidung von Widersprüchen. Die Vernunft ist das Kerninstrumentarium der Philosophie.

 

Die „großen Fragen“ der Philosophie

Eine auch nur ansatzweise vollständige Bestimmung thematischer Schwerpunkte der heutigen Philosophie ist unmöglich. Dennoch wollen wir uns eine kleine Auswahl ansehen. Der Blick auf die Philosophiegeschichte zeigt, dass einige Fragen besonders hartnäckig sind und bis heute einen Kernbestand philosophischer Beschäftigung ausmachen. Zu diesen gehören unter anderem:[5]

1.      Was sind die Regeln des korrekten Denkens und Argumentierens?

2.     Wie konstituiert sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke und worauf beziehen sich diese?

3.     Worin besteht die Wirklichkeit und was gibt es (nicht)?

4.     Inwieweit lässt sich die Wirklichkeit erkennen und was bedeuten Wissen und Wahrheit? 

5.     Was ist Wissenschaft und wo liegen ihre Möglichkeiten und Grenzen?

6.     Was ist Natur?

7.      Was sind Raum, Zeit und Materie?

8.     Wie steht es um Kausalität, Determinismus und Willensfreiheit?

9.     Wie lässt sich das Körper-Geist-Problem lösen?

10.  Worin bestehen das Wesen des Menschen und die Identität einer Person?

11.    Gibt es Gott und was passiert nach dem Tod?

12.   Was sind das Gute, Gerechtigkeit und Freiheit und wie sollen wir handeln?

13.   Wie ist ein idealer Staat beschaffen und in welcher Gesellschaft sollten wir leben?

14.   Was ist das Schöne und was sind die Grundlagen unserer ästhetischen Wertschätzung?

15.   Worin besteht der Sinn des Lebens, was bedeutet Glück und was ist ein gutes Leben?

Zu all diesen Bereichen – und vielen weiteren – gibt es in der Philosophie lebhafte Debatten. Dabei sind enge Anknüpfungen an die Tradition ebenso an der Tagesordnung wie Brüche und Neukonzeptionen.



[1] Eine erste Antwort darauf gibt z.B. Heichele (2020).

[2] Vgl. zum dreifachen Anspruch der Philosophie z.B. Illies (2006: 21).

[3] Rosenberg (2009: 18).

[4] Was genau unter „Wahrheit“ zu verstehen ist, wird heute im Rahmen verschiedener Wahrheitstheorien zu ergründen versucht.

[5] Abgewandelt und erweitert nach Tetens (2010: 16).

 

Zitierte Literatur

Heichele, Thomas (2020): Philosophie im 21. Jahrhundert. In: T. Heichele (Hg.): Mensch – Natur – Technik. Philosophie für das Anthropozän. Münster: Aschendorff.

Illies, Christian (2006): Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter. Zur Konvergenz von Moral und Natur. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rosenberg, Jay F. (2009): Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger. Frankfurt am Main: Klostermann.

Tetens, Holm (2010): Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung. München: C. H. Beck.

 


Kommentare

  1. Aiwanger-Gedächtnis-Kommentar: Herr Heichele, wir bräuchten mehr Philosophen wie Sie, mit Verstand und Pragmatik.

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