Bis vor Kurzem war klar: Mit „Rationalismus“ ist eine (v.a. in der Neuzeit prominente) erkenntnistheoretische Strömung in der Philosophie gemeint, die bei der Frage, wie Erkenntnis erlangt und begründet werden kann, als letzte bzw. fundamentale Erkenntnisinstanz auf das Denken bzw. die Vernunft setzt. Der klassische Gegenspieler des Rationalismus ist der Empirismus. Das Credo des Rationalismus lautet grob gesprochen: Das Wissen und die Rechtfertigung von Überzeugungen gründen (vorrangig) im Denken und es gibt auch Wissen über die Welt, das nicht über Erfahrung begründet wird. Bedeutende Vertreter des Rationalismus sind u.a. René Descartes (1596-1650), Baruch de Spinoza (1632-1677) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716).
Seit Neuestem hat sich nun im Zuge der laufenden KI-Revolution der Terminus „Rationalismus“ für eine weitere – man sollte es besser in Anführungszeichen setzen – „philosophische“ Strömung eingebürgert, die sich in der Tech-Industrie und ihrem Umfeld großer Beliebtheit erfreut. Der Ausgang dieses „Rationalismus“ liegt in den späten 2000ern und frühen 2010ern und ist v.a. um den Blog „LessWrong“ zentriert. Dieser „Rationalismus“ – auch hier werde ich nicht auf Anführungszeichen verzichten – beansprucht für sich einen rationalen Weltzugang, der u.a. frei von kognitiven Verzerrungen ist und intuitive Begründungen durch Vernunft ersetzt. Bei genauerer Betrachtung wird – etwas pointiert formuliert – jedoch klar: Für diese Pseudorationalisten erschöpfen sich Denken und Vernunft im Inhalt eines „Statistik 1“-Kurses in Kombination mit anthropologischen Willkürsetzungen.
Der Ausdruck „Rationalismus“ ist vom lateinischen „ratio“ für „Vernunft“ abgeleitet. Stark vereinfacht gilt: Vernunft ist das Vermögen, Begründungen zu liefern und (selbst-) reflexiv die Geltungsansprüche von Gründen zu beurteilen. Ein wesentlicher Aspekt betrifft dabei den Ausweis und die Vermeidung von Widersprüchen. Wer jedoch, und genau das ist bei den „Rationalisten“ feststellbar, Vernunft auf Zweckrationalität reduziert und dann – die Zwecke selbst und die Grundlage des eigenen Handelns vor der Reflexion immunisierend – mit dem Habitus eines „Vernünftigen“ durch die Welt stolziert, ist ein Narr.
Die Pseudorationalisten des Silicon-Valley-„Rationalismus“ sind zwar kein monolithischer Block, aber neben der generellen Reflexionsarmut gibt doch einige Gemeinsamkeiten, was ihre Ausrichtung anbelangt. Im Allgemeinen ist ein starker Fokus auf Künstliche Intelligenz feststellbar. Dabei offenbart sich allerdings eine gewisse Ambivalenz: Während auf der einen Seite KI weithin als entscheidendes Mittel gesehen wird, den „rationalen“ Weltzugang zu realisieren (wir erinnern uns u.a. an die Vorliebe für statistische Zugänge ...), sind gleichzeitig Warnungen vor den existenziellen Risiken durch KI an der Tagesordnung. In engem Zusammenhang mit dem KI-Fokus steht ein besonderes Faible für den Transhumanismus und den Effektiven Altruismus (siehe unten).
Wie sehr sich dieser angebliche „Rationalismus“ vom klassischen Rationalismus unterscheidet, zeigt sich nicht nur in der prinzipiellen Ausblendung der reflexiven Kraft der Vernunft, sondern u.a. auch im starken Hang zu reduktionistischen und materialistischen Ansätzen, die in der Ethik mit anti-realistischen Haltungen einhergehen. Die „Rationalisten“ tragen Labels wie „Logik“, „Daten“ und „Wissenschaft“ wie eine Monstranz vor sich her, und ergehen sich dabei letztlich in einem primitiven Szientismus, der jede Bindung an die Vernunft vermissen lässt. Kurzum: Die „Silicon-Valley-Rationalisten“ sind im Gegensatz zu den *eigentlichen* Rationalisten über weite Strecken reflexionsdefizitäre Tech-Fanatiker, deren vermeintlicher Vernunftgebrauch bei näherem Hinsehen in ein obskures Geflecht dogmatischer Ideologien kollabiert.
NB: Dieser „Rationalismus“ ist auch Bestandteil des Akronyms „TESCREAL“, das für „transhumanism, Extropianism, singularitarianism, cosmism, Rationalism, Effective Altruism, and longtermism“ steht und 2024 von Timnit Gebru und Émile P. Torres in einem wirkmächtigen Artikel, der sich kritisch mit Überzeugungen der Tech-Industrie auseinandersetzt, geprägt und erläutert wurde. „TESCREAL“ meint ein Bündel von Ideologien, die v.a. im Silicon Valley anzutreffen sind.
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