Immunisierungen bzw. Immunisierungsstrategien sind typisch für Pseudowissenschaften, unplausible Verschwörungserzählungen etc.: Das eigene Gedankengebäude wird bei widersprechenden Daten an den Rändern so modifiziert, dass der Kern unverändert bleiben kann.
Aber: Immunisierungsstrategien sind keine exklusive Eigenheit von Pseudowissenschaften etc. Unter jenen, die sich nicht mit Wissenschaftstheorie und -geschichte auseinandersetzen, halten sich bis heute viele naiv-falsifikationistische Vorstellungen, wonach wissenschaftliche Theorien bei gegenläufigen Beobachtungsdaten einfach verworfen werden – aber das ist falsch. Immunisierungsstrategien gehören – siehe z.B. Imre Lakatos (1922-1974) – von Anbeginn an und bis heute auch zu den zentralen Merkmalen und Vorgehensweisen in der Wissenschaft. Der entscheidende Unterscheid: Bei Pseudowissenschaften etc. gehen diese Immunisierungen mit einem „degenerierten Forschungsprogramm“ (Lakatos) einher: Die Immunisierungen führen insgesamt zu einer Verringerung der Erklärungs- bzw. Prognosekraft.
Die Dynamik wissenschaftlicher Theorien zählt zu den komplexesten Feldern der Wissenschaftstheorie. Ein Problembereich: Wann soll man wegen abweichender Beobachtungsdaten eine Theorie verwerfen bzw. wie viele „Rettungsversuche“ durch Modifikation der Theorie sind sinnvoll?
Ein wissenschaftstheoretisches Standardbeispiel ist die Abweichung der Beobachtungsergebnisse von den Vorhersagen der Newtonschen Mechanik: 1846 wurde der Planet Neptun durch Johann Gottfried Galle (1812-1910) entdeckt! Galle bekam von Urbain Le Verrier (1811-1877) einen berechneten Aufenthaltsort für diesen Planeten – und fand Neptun. Warum aber kam Le Verrier auf die Idee, dass dort ein bis dahin unentdeckter Planet sein muss?
Es gab eine Beobachtungsanomalie des Uranus: Uranus bewegte sich nicht so, wie er es gemäß der Newtonschen Mechanik sollte – also wurde ein Planet (Neptun) postuliert, der durch seine Gravitation die Bahnstörung verursacht. Das Festhalten an einer Theorie trotz abweichender Beobachtungsdaten ist in der Wissenschaft Alltag: Aber es ist unklar und wissenschaftstheoretisch oft sehr schwer begründbar, wie viele Rettungsversuche einer Theorie durch Ad-hoc-Annahmen (in dem Fall: die Theorie ist nicht falsch, sondern es gibt einen unentdeckten Planeten, der für die abweichenden Daten verantwortlich ist) oder Modifikation der Theorie aus wissenschaftstheoretischer Warte „erlaubt“ sind und wann man eine Theorie wegen abweichender Beobachtungsdaten verwerfen sollte.
Funfact: Es gab auch ähnliche Bahnstörungen wie bei Uranus beim Planeten Merkur – und ab 1855 versuchte Le Verrier, wie viele andere auch, vergeblich, die Bahnstörungen des Merkur äquivalent zu lösen. Auch hier wurde ein bislang unbeobachteter Planet postuliert – Vulkan! Aber alle Rettungsversuche der Newtonschen Mechanik (als kein weiterer Planet gefunden wurde, wurden u.a. mehrere kleine Asteroiden postuliert, die eine entsprechende gravitative Wirkung haben sollten) scheiterten – eine Lösung hatte man schließlich, als man die Theorie tatsächlich aufgab und stattdessen die Allgemeine Relativitätstheorie zugrunde legte.
Eine Literaturempfehlung: Gähde, Ulrich (2009): Modelle der Struktur und Dynamik wissenschaftlicher Theorien. In: Bartels, A. / Stöckler, M. (Hg.): Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch. Paderborn: Mentis, S. 45-65. Und zu unplausiblen Verschwörungserzählungen: Heichele, Thomas (2023): Verschwörungserzählungen im Kontext der Wissenschaftsleugnung: Merkmale und Kritikverfahren aus wissenschaftstheoretischer Warte. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie. 9 (2), S. 113-142.
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